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Der Mensch, das Spiel und der Zufall: Lohnt sich das Buch von Dr. Daniel Henzgen?

Schon seit Jahrtausenden fasziniert das Spiel die Menschheit. Ob Würfel in den Händen römischer Soldaten, Kartenrunden in verrauchten Wirtshäusern oder das Klicken moderner Spielautomaten: stets schwingt dabei der Zufall als Element mit, das den Alltag kurzzeitig außer Kraft zu setzen scheint.

Dr. Daniel Henzgen hat zusammen mit Dominik Meier ein Buch über dieses Phänomen geschrieben. Es trägt den Titel „Der Mensch, das Spiel und der Zufall“ und beschäftigt sich unter anderem mit dem Glücksspiel, geht aber noch auf eine viel philosophischere Ebene.

Warum das Spiel mehr ist als bloßer Zeitvertreib

Das Spiel war nie nur eine harmlose Nebenbeschäftigung. Schon die Griechen nutzten Würfel, um Entscheidungen den Göttern zu überlassen, während im Mittelalter Losverfahren über Besitz oder gar Schuld und Unschuld entschieden.

Diese Praktiken zeigen, wie tief der Zufall mit der menschlichen Kultur verwoben ist. Das Werfen eines Würfels oder das Ziehen einer Karte waren eben nicht nur Unterhaltung, sondern Ausdruck von Weltbildern, die Ordnung und Schicksal eng verbanden.

Bis heute hat das Spiel diese Kraft nicht verloren. Ob in Form von Brettspielen, Lotterien oder digitalen Simulationen. Stets erzeugt es eine eigene Welt mit Regeln, die sich vom Alltag unterscheiden. Für kurze Zeit entstehen Gemeinschaften, in denen soziale Unterschiede keine Rolle spielen.

Am Spieltisch sitzen Unternehmer neben Handwerkern, alle eint die gleiche Spannung, die gleiche Chance, das gleiche Risiko. Henzgen und Meier knüpfen genau hier an. Für sie ist das Gewinnspiel ein anthropologisches Grundmuster, das weit mehr bedeutet als Zerstreuung oder Freizeitgestaltung. Es ist ein Schlüssel zum Verständnis menschlichen Handelns.

Gewinnspiel statt Glücksspiel

Besonders spannend ist die bewusste Entscheidung der Autoren, nicht vom „Glücksspiel“ zu sprechen. Dieser Begriff ist in vielen Köpfen negativ besetzt, er weckt Assoziationen zu Abhängigkeit, Sucht oder moralischer Schwäche. Wer so spricht, betrachtet das Spiel schon durch eine Brille des Verdachts.

Henzgen und Meier bevorzugen stattdessen den Ausdruck „Gewinnspiel um Einsatz und Zufall“. Das mag sperrig klingen, eröffnet aber eine nüchterne Perspektive. Statt moralischer Stigmatisierung rückt der analytische Blick auf Mechanismen und Faszination in den Vordergrund. Sprache ist eben nicht neutral.

Wer sie verändert, verschiebt auch die Wahrnehmung. In diesem Fall bedeutet es, das Spiel aus der Ecke des Verdachts zu holen und es wieder als kulturelles, gesellschaftliches und psychologisches Phänomen ernst zu nehmen.

Gerade in Deutschland zeigt sich dieser sprachliche und regulatorische Unterschied besonders deutlich. Mit dem Aufstieg des Online-Glücksspiels musste jedes einzelne Spiel eine staatliche Lizenzierung durchlaufen. Bekannte Titel wie Book of Dead existieren daher in unterschiedlichen Varianten im Internet – reguliert und nicht reguliert.

Wer es bei einem legalen Anbieter spielt, nutzt eine geprüfte und regulierte Version, während nicht lizenzierte Plattformen oft andere Ausführungen anbieten, die weder kontrolliert noch rechtlich abgesichert sind. Hier wird sichtbar, wie stark der Blick auf Sprache, Regulierung und Wahrnehmung miteinander verknüpft ist. Ein kleiner Eingriff, der große Wirkung entfaltet.

Das Spiel als wohldosierte Anarchie jenseits der Ordnung

Spielen heißt immer auch, die bekannten Bahnen zu verlassen. Der Alltag ist von Regeln, Pflichten und Routinen geprägt, während das Spiel einen Raum schafft, in dem anderes möglich wird. Der Zufall sorgt dafür, dass Macht, Besitz oder Ansehen für einen Moment keine Rolle spielen. Wer mitspielt, unterwirft sich nicht gesellschaftlichen Hierarchien, sondern den Regeln des Spiels.

Gerade darin liegt die anarchische Kraft, von der die Autoren sprechen. Das Spiel ist eine kontrollierte Auszeit vom Ernst, eine wohldosierte Form von Anarchie. Es erlaubt die Erfahrung, dass nicht alles planbar ist und dass Ungewissheit nicht nur bedrohlich, sondern auch befreiend wirken kann.

Im Kern ist es eine Übung in Selbstbestimmung, ein Training darin, Unberechenbarkeit zuzulassen. Wer sich darauf einlässt, spürt, wie wohltuend diese kleine Flucht aus der Ordnung sein kann.

Mit Regulierung und Freiheit

Doch genau an diesem Punkt mischt sich der Staat seit Jahrhunderten immer wieder ein. Schon früh erkannten Herrscher, dass das Spiel nicht nur harmlos sein muss. Wer den Zufall herausfordert, stellt indirekt auch Fragen an Macht und Ordnung. Deshalb wurden Spiele verboten, reguliert oder mit religiösen Argumenten verdammt.

Heute treten andere Argumente an diese Stelle. Nicht mehr die Moral steht im Vordergrund, sondern die Pathologisierung. Spielfreude wird häufig als Gesundheitsrisiko dargestellt, als Abweichung, die behandelt und eingedämmt werden müsse. Dieser Blick hat Folgen. Er verändert den gesellschaftlichen Diskurs und rückt Menschen, die spielen, in die Nähe von Patienten, die betreut werden müssen.

Henzgen und Meier zeigen, wie stark der Kampf um Gewinnspielregulierung von Ideologien, Machtinteressen und moralischen Vorstellungen durchzogen ist. Digitale Technologien verschärfen das noch, weil sie Spielräume erweitern und staatliche Kontrollmechanismen auf die Probe stellen. Es entsteht ein Schauplatz, auf dem Freiheit und Kontrolle gegeneinander stehen und auf dem der Staat nicht selten versucht, die Regeln zu diktieren.

Ein politisches Plädoyer für Autonomie und Selbstbestimmung

Bei aller historischen Analyse bleibt das Buch nicht neutral. Es versteht sich auch als Streitschrift, die die Freiheit des Individuums verteidigt. Spielen ist hier nicht einfach Freizeit, sondern ein Ausdruck von Autonomie. Wer in seiner Freizeit spielt, entscheidet selbst, wie mit Zeit, Geld und Risiko umgegangen wird.

Die Autoren kritisieren daher ein Gesellschaftsbild, das Bürgerinnen und Bürger zunehmend als schutzbedürftig und unfähig zur eigenen Entscheidung betrachtet. In diesem Denken steckt ein paternalistischer Reflex, der dem Einzelnen die Fähigkeit abspricht, mit Ungewissheit umgehen zu können. Henzgen und Meier setzen dem Vertrauen in Selbstbestimmung entgegen. Für sie ist der Umgang mit dem Spiel ein Gradmesser für die demokratische Reife einer Gesellschaft.

Sprache, Stil und Wirkung

Abgesehen von Inhalten ist es auch die Sprache, die dem Werk seine Kraft verleiht. Kritiker haben Henzgen und Meier „virtuose Sprachakrobatik“ attestiert und das Buch als Aufklärungsschrift im besten Sinne bezeichnet. Tatsächlich liest es sich nicht wie ein trockener Forschungsbericht, sondern eher wie ein lebendiger Essay, der historische Tiefenschärfe mit politischem Biss verbindet.

Besonders bemerkenswert ist der interdisziplinäre Ansatz. Geschichtswissenschaft, Philosophie, Ökonomie, Psychologie und Statistik fließen zusammen, sodass eine Vielfalt von Blickwinkeln entsteht.

Der Leser wird durch die Kapitel geführt, die von den Grundlagen des Gewinnspiels über seine Logik bis hin zur „ludischen Differenz“ reichen. Diese Vielfalt macht das Werk anschlussfähig für unterschiedliche Interessensgruppen, vom Kulturhistoriker bis zum Public-Affairs-Experten.

Lohnt sich die Lektüre wirklich?

Bleibt die entscheidende Frage: Ist dieses Buch die Mühe wert, gelesen zu werden? Wer nach praktischen Tipps für Spielstrategien sucht oder juristische Details der Glücksspielregulierung erwartet, wird enttäuscht sein. Doch wer Interesse an Kulturgeschichte, Philosophie oder politischer Theorie hat, findet hier eine Fülle von Denkanstößen.

Der Gewinn liegt in der Perspektive. Indem die Autoren konsequent von „Gewinnspiel“ sprechen, verschieben sie den Blickwinkel. Sie holen das Spiel aus der Ecke moralischer Verdächtigung und zeigen, wie es Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung erfahrbar macht.

Gleichzeitig öffnen sie den Diskurs für politische Fragen: Welche Rolle darf der Staat spielen? Wie viel Kontrolle verträgt die Freiheit? Und warum ist das Verhältnis von Spiel und Zufall so aufschlussreich für das Verständnis moderner Gesellschaften?

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